
Die Kehrtwende meines Lebens
Nun schreibe ich also über meinen Unfall – bald 10 Jahre sind seither vergangen. Kaum zu glauben, wie sehr sich mein Leben seither verändert hat und wie deutlich diese Veränderungen noch immer nachwirken. Veränderungen zum Guten, wie ich stets dazu sage. Aber nochmals erleben möchte ich das Ganze nicht – auch das füge ich regelmäßig hinzu. Diese Zeit hat massive Veränderungen erfordert, innerlich wie äußerlich – und ich bin froh, dies einmal geschafft zu haben. Und ich denke, dass ich damit mein Durchhaltevermögen ausreichend unter Beweis gestellt habe – quasi „auf Lebenszeit“…
Was ist nun damals passiert – im April 2015?
Zur Vorgeschichte
Ich muss wohl noch ein Stück weiter zurückblicken – Jahresende 2014. Scheint mir ewig lange her zu sein. Eine Zeit wie aus einem anderen Leben. Ich war damals frisch 30 geworden, befand mich mitten in der praktischen Ausbildung zur Klinischen- und Gesundheitspsychologin und hatte noch kein „großes Ziel“ für mein weiteres Leben vor Augen. Alles war ein bisschen schwammig und unklar… und irgendwie fühlte ich mich noch mehr als Studentin denn als Psychologin. Eines war mir allerdings klar, nämlich, dass ich reisen wollte.
Von meinen ersten Kletterreisen war ich begeistert – auch wenn sie mega anstrengend waren. Und das neue Jahr sollte zumindest die Vorfreude auf ein neues Abenteuer in Aussicht stellen. Ich war damals Single und mehr aus pragmatischen denn emotionalen Gründen plante ich die Reise für mich alleine. Wandern geht auch ohne Begleitung. Und wo lässt es sich gut wandern?
Madeira. War mir schon öfters empfohlen worden. Wo liegt das überhaupt genau? Hm… nicht so wichtig. Es soll dort angenehm warm sein und eine wundervolle Natur geben. So: why not?
Ob ich eine Auslands-Krankenversicherung hätte fragte mich eine liebe Freundin noch, als ich schon mitten in der Planung war. Keine Ahnung. Naja – wenn sie meint… informiere ich mich halt. Aber was soll schon passieren? Ich bin ja bloß 1 Woche dort und werde eh nur Herumwandern… DANKE DAFÜR, liebe Freundin!!
Anreisetag
Selbige Person brachte mich dann frühmorgens am Flughafen nach Schwechat. Es war Karfreitag – ich erinnere mich noch dran, weil ich gerade herzhaft in ein Speckstangerl biss, als mir der Tag bewusst wurde! Dass ich 2 Tage später – am Ostersonntag – schwer verletzt in einem Krankenhaus liegen würde… wär hätte das erahnen können?
Der Abschied war herzlich, der Flug aufregend: meine 1. Flugreise ohne Begleitung. Überhaupt meine erste Alleinreise in diesem Leben. Komisch, dass ich das mache… hatte ich früher doch schon auf Skikursen am 1. Tag Heimweh. Aber ich fühlte mich gewappnet – hatte Bücher, meine Yoga-Matte, Musik und mein Tagebuch bei mir. Und es ist ja völlig egal, womit ich die Tage füllen würde. Immerhin ist dies meine Reise. Im schlimmsten Fall bleibe ich in meiner Unterkunft bis ich wieder zuürckfliege… so oder so ähnlich meine Überlegungen während des Flugs. Ich blätterte gedankenverloren in einer dieser Werbe-Magazine, welche völlig überteuert Snacks und Parfums anwerben, die man im Flugzeug kaufen konnte. Noch nie hatte ich etwas konsumiert- nicht mal wenn ich hungrig war. Aber plötzlich blieb mein Blick auf diesem Silberarmband hängen – beinahe unscheinbar, so zart war es gefertigt. Und mittig mit dem Unendlichkeits-Symbol – eine liegende Acht – verziert. DAS will ich!
Gekauft – und noch im Flugzeug angelegt!
Fühlt sich gut an – und ungewohnt. Genauso wie das Buch, das ich gerade lese. Über die „wilde Frau“ in mir, über Krafttiere und innere Stärke. Es war mir beinahe peinlich, dieses Buch in den Händen zu halten. Das Geschriebene kam mir so weit von mir entfernt vor. Innerlich war ich nämlich in 1. Linie eines: unsicher. Und schüchtern. Ich hatte keine Ahnung, ob ich Karriere oder Kind wollte – oder nichts von beidem, ob ich nun sportlich war oder doch lieber weiterhin rauchend und tanzend nächtelang Live-Musik genießen wollte, ob in mir tatsächlich eine gute Psychologin steckte. WER bin ich eigentlich?? Und noch viel wichtiger: WOHIN soll ich mich künftig bewegen? Ich wusste es nicht. Und innerlich hoffte ich wohl, diese Tage in der Ferne würden mir zumindest eine Richtung andeuten…
Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen!
Gut gelandet.
Gepäck und Mietauto gecheckt. Unterkunft gefunden. Koffer ins Zimmer geschleppt. Und plötzlich: Stille. Nach all dem Trubel, all dem Funktionieren und Tun: plötzlich nichts mehr. Kein Auftrag. Kein weiterer Plan. Keine GesprächspartnerInnen. Keine Ablenkung. Ich. Alleine. Hier in der Fremde. Blick aufs Handy – keine neuen Nachrichten. Und „Daheim“ kam mir grad sehr weit weg vor. Gut. Ich kann noch auspacken – und dann gibt`s eh bald Abendessen. Das Zimmer „heimelig“ zu machen, war eine Challenge für sich. Es gelang mir…naja…so lala.
Egal.
Ober mir war noch eine Art Terrasse. Ich wollte rauf – und raus! Draußen drehte ich mich in alle Richtungen: ich sah das Meer, allerdings kein idyllisches Sandstrand-Italien-Meer. Es war wild, mit hohen Wellen, die gegen die Klippen klatschten. Diese ragten steil aus dem Meer heraus. Der Himmel wolkenverhangen. Die Insel wirkte auf mich abendteuerlich, wenn nicht sogar bedrohlich.
Ich ging ins Haupthaus der Pension zum Abendessen und überwand meine Schüchternheit, um mit meiner Gastgeberin (oder vielmehr mit deren Besucherin – die englische Sprache ist nämlich nicht allgegenwärtig auf Madeira) ins Gespräch zu kommen, wo ich denn hier gut wandern könnte. Beide bemühten sich darum, mir trotz merklicher Sprachbarrieren weiterzuhelfen und ich bedankte mich für ihre Freundlichkeit. Innerlich fühlte ich mich äußerst unbehaglich. Was um alles in der Welt habe ich hier überhaupt zu suchen? Was für eine Schnaps-Idee! Was sollte diese Reise schon bringen?
Ich kam mir lächerlich vor und ging zurück auf mein Zimmer. Am Boden meine Yoga-Matte, am Bett meine aktuelle Lektüre. Und ich? – hatte zu gar nichts Lust. Vielleicht sollte ich einfach schlafen gehen – und morgen diese empfohlene Tour versuchen. Eigentlich müsste ich sie finden – mit meinem kleinen Reiseführer und der Beschreibung der beiden Damen… mal sehen…
Es ist komisch, so ganz allein für sich zu sein. Irgendwie lässig – irgendwie unheimlich, jedenfalls ungewohnt. Ich schrieb noch ein paar Zeilen in mein Tagebuch und legte mich schlafen.
Die erste Wanderung auf Madeira
Schönen guten Morgen! Neuer Tag, neues ….?!
Naja, ich weiß noch nicht so recht – fühl´ mich und bin ja hier auch nach wie vor fremd. Aber ich geh´ s an – wandern also. Alleine. Ohne sich nebenher zu unterhalten, ohne Musik, ohne Orientierung. Ich mache mich auf den Weg. Die Gegend gefällt mir – liebliche Gassen und zahlreiche Blumen, die ich nicht kenne. Bald geht es steil bergauf. Spaßig? Hm… geht so… – schwitzen fand ich damals ja nicht gerade erstrebenswert… Ich gehe weiter, gehe langsamer, mache Pausen, ein paar Fotos… vielleicht will ich mich ja später an das hier erinnern – wer weiß…
Insgesamt finde ich`s dennoch unspektakulär – ohne genaue Vorstellung davon, was ich stattdessen erwartet hätte. Mir ist nicht langweilig – aber weit weg von der Langeweile bin ich auch nicht… so ähnlich wie mein generelles Lebensgefühl damals. Genieße ich das Alleine-Sein? Oder will ich bloß, dass es so ist?
Ich gehe weiter… dem steilen Auf- folgt ein ebenso steiler Abstieg. Jedoch auch dieser wenig aufregend. Der beschriebene Weg geht an der Küste entlang zurück zum Appartment. Ich bin länger unterwegs als ich anfangs gedacht habe. Aber ich habe noch ausreichend Wasser – somit mache ich mir keine weiteren Gedanken.
Unten am Meer angekommen spüre ich die Kraft der Natur. Der Wind ist stark, gleichzeitig lauwarm, die Sonne scheint, sie wärmt mich. Andere Leute sehe ich nicht an dieser felsigen, unwirtlichen Küste. Es ist hier weder Badewetter noch Badestrand. Die Wellen schlagen schäumend auf dunkles Vulkangestein. Eine ungezähmte Atmosphäre. Ich bekomme Lust, das Wasser zu spüren – aber hier reingehen scheint mir zu gefährlich. Ich könnte mir die Füße verletzen an den scharfen Felsen. Da sehe ich einen großen flächigen Stein, welcher mit jeder Welle neu mit Wasser gefüllt wird. DAS könnte gehen: nicht schwimmen, aber sich vom Wasser anspülen lassen. Ich habe Lust hier nochmals eine Pause einzulegen, zieh´ mich aus und leg´ mich flach auf besagten Stein. Schwapp* – das Wasser umspült mich – und schwapp* gleich nochmal! Es ist ein lustiges und erfrischendes Gefühl. Ich muss lachen. Gern würde ich den Moment teilen – aber: niemand hier außer mir. So genieße ich es weiter für mich – so gut es mir möglich ist… Ich fühle mich lebendig – und abenteuerlich. Nackt und allein an dieser felsigen Atlantikküste. Dennoch drängt es mich, bald weiterzugehen. Ich setze mich etwas höher und lasse mich von Wind und Sonne trocknen. Mein Blick wandert die Küste entlang. In der Ferne kann ich bereits mein Ziel erkennen. Ok – auf zum letzen Abschnitt! Ich spüre die scharfen Felsen durch meine Wanderschuhe – zum Glück habe ich mir für diese Reise noch festes Schuhwerk besorgt! Doch dann hilft mir das auch nicht mehr weiter. Ich stehe an. Das tosende Meer versperrt mir den weiteren Weg. Damn* Was nun?! Ich ärgere mich… ich könnte umdrehen und versuchen, mit einem Bus zu meinem Appartment zurückzukommen. Oder warten, bis die Flut zurückgeht…? Oder…?
Entscheidungsfindung
Kann ich diese Stelle oberhalb queren? Nach dieser Einbuchtung sehe ich – vielleicht 100m entfernt – einen Kieselstrand, der direkt zum Haus führt. Ober mir ein abgeschrägtes Plateu- schmal, aber darauf köntne ich stehen. Danach ein kurzes Kletterstück – nicht mehr als 5 Meter breit. Und der Fels schaut griffig aus. Hm…? Es ist steil, das Meer unter mir wild. Aber ich kann doch klettern. Sei nicht schon wieder so feig, höre ich eine Stimme in mir. Trau` dir mal was zu! Vielleicht ist das die Challenge, weswegen ich hierher gekommen bin…
Ich überlege – schaue – überlege nochmals: kann das gehen? Die Angst meldet sich deutlich. Das Gefühl kenn´ich schon… das ist gefährlich! Was, wenn es nicht klappt! Du bist hier ganz allein! Lass´ es sein. Ach, nerv´ mich nicht schon wieder! Ich will endlich mal mutig sein! Endlich meine Angst besiegen!
Ich mach´das jetzt! Ich lass´mich nicht abhalten. Umdrehen ist doch feige! Los!!
Doch umdrehen wäre wohl die sichere Alternative gewesen, wie ich bald merken sollte…
Sobald ich einige Schritte auf die schräge Rampe gemacht habe, potenzierte sich meine Angst sprunghaft. Von oben sieht alles ganz anders aus – und noch viel bedrohlicher! Was, wenn ich abstürze? Ich würde ins Wasser fallen – und vermutlich ertrinken oder auf einen der Felsen fallen. Aber zurück wollte ich auch nicht mehr: das Gestein war nicht fest, sondern sandig und bröselig. Jeder Griff, den ich glaubte halten zu können, zerkrümelte bei Druck sofort. Das hier kann nicht beklettert werden – das ist alles weiches, sandiges Gestein. Ich merkte es bei jedem Griff – und bei jedem Tritt. Die Angst nahm weiter zu. Ich konnte weder vor noch zurück. Fühlte mich hilflos – und spürte die Gefahr: unter mir das wilde Wasser. Vor mir die bröselige Felsstruktur. Alles rundherum steil. Ich wollte weinen, wünschte mir Hilfe. Doch da war niemand.
Ok. Reiss´dich zusammen!! Schritt für Schritt. Vielleicht habe ich Glück. Hoffentlich habe ich Glück! BITTE!!
Jeder Schritt nach rechts, jedes Weitergreifen musste diese Angststarre meines Körpers überwinden. Ein schreckliches Gefühl. Ich hatte Todesangst. Aber ich konnte es nur noch weiter versuchen. Bitte. Halte. Bitte.
Und tatsächlich. Ich stehe noch immer in der Wand, komme aber immer weiter nach oben. Das Gefühl ist furchtbar – ich möchte, dass es endlich aufhört. Mein Körper so voller Spannung – ich kann kaum noch atmen. Noch ein Schritt. Noch einmal Greifen – und dann…
…hält es nicht mehr.
Absturz
Ab da fehlt mir jedes Bild. Nur noch Geräusche… ich höre das Wasser, spüre, auf etwas Hartem zu liegen und nass zu sein. Kälte. Und irgendwann eine weibliche Stimme. Mein Rucksack! Ich brauche ihn!! Ich kann nichts sagen… höre Schritte. Spüre ein Geruckel an mir. Ich bin wohl in Bewegung… kein Zeitgefühl. Völlige Ohnmacht. Ich weiß nicht was mit mir passiert. Habe ich Schmerzen? Keine Ahnung. Ich kann mich nicht orientieren. Nicht wehren. Mir nicht helfen. Irgendwas Schlimmes ist passiert – und ich habe jegliche Kontrolle verloren.
Später kann ich rekonstruieren, dass dies der Abtransport durch die Bergrettung war. Irgendwie habe ich noch einen Notruf abgesetzt, nachdem ich abgestürzt bin. Bevor ich ohnmächtig wurde. Eine Frau aus Amsterdam war neben mir am Unfallort und hat mich scheinbar bis zum Krankenhaus begleitet. Sie hat versucht, mich zu beruhigen, wie sie mir später per Mail geschrieben hat. Marjan. Deine Nummer habe ich heute noch in meinem Handy gespeichert. Genauso wie jene von Alexandra und Cecilia, Anicio und Beatrice. Helfer in der Fremde. Menschgewordene Engel für mich. Ihr habt mir geholfen, ohne mich zu kennen. Ohne jeglichen Eigennutzen. Einfach nur, weil ihr meinen Unfall miterlebt oder davon gehört habt. Ich danke euch bis heute dafür!
…und so begann mein „2. Leben“.